Die Oscar-Saison 2026 nimmt zunehmend Konturen an – mit einem Feld, das zugleich breit, ungewöhnlich international und thematisch auffallend düster erscheint.
In den Vorläufen internationaler Branchenblätter kristallisieren sich bereits erste Favoriten heraus: Filme wie One Battle After Another, Hamnet oder Sinners markieren sehr unterschiedliche Schwerpunkte, spiegeln aber die gegenwärtigen Spannungen des amerikanischen wie internationalen Kinos.
Neben klassischen Prestigeprojekten und ambitionierten Studioproduktionen finden sich unerwartet viele Titel mit stark persönlicher Handschrift. Die folgende Übersicht fasst den aktuellen Stand der Debatte zusammen – und zeigt, welche Filme, Schauspielerinnen und Schauspieler in den wichtigsten Kategorien derzeit als führende Favoriten gelten und welche Außenseiter überraschen könnten.
Bester Film
In zahlreichen Branchenmagazinen führt aktuell One Battle After Another das Feld an: Tatsächlich trägt Paul Thomas Andersons paranoider Gegenwartsfilm zahlreiche Merkmale eines künftigen Kanonfilms, von Leonardo DiCaprios erschöpftem Ex-Revoluzzer bis zur nervös brodelnden Zeitgeiststruktur, die an seine eigenen frühen Ensemblewerke erinnert. Daneben behauptet sich der in Deutschland noch nicht erschienene Hamnet als klassische Prestigeproduktion in vielerlei Rankings: Chloé Zhao erzählt den Tod von William und Agnes Shakespeares Sohn als dichtes Trauerdrama und bietet dem Zweig der Academy, der Tradition schätzt, eine elegante Wahl. Die politischen und etwas wilderen Energien bündelt aber sicherlich Sinners, Ryan Cooglers Blues-Vampir-Hybrid, der Genre und Geschichte verschränkt und beim Publikum deutlich besser ankam, als es das Konzept zunächst vermuten ließ.
Der hierzulande ebenfalls noch nicht erschienene Marty Supreme wiederum löst gerade einen regelrechten Netzhype aus und wirkt wie der logische Safdie-Nachfolger zu Uncut Gems: Ein fiebriger Rausch über Ruhm und Ausverkauf, der auch bei Kritikern für Euphorie sorgt. Joachim Triers Sentimental Value hält als leise Familienchronik die Arthouse-Fahne unter den Favoriten hoch, während Guillermo del Toros Frankenstein wohl eher durch opulente Bildarbeit und eine klassische Gothic-Struktur auf gewisse Sympathien der Academy stoßen dürfte. Netflix ist daneben mit Train Dreams und Jay Kelly im Rennen – ersteres ein stilles Americana-Drama, letzteres ein Baumbach-Beziehungsstück in der Tradition von Marriage Story. Abgerundet wird die Top 10 im Rennen um den Oscar für den „Besten Film“ von zwei Eventtiteln: dem Musical-Giganten Wicked 2 und dem Hochglanz-Rennfilm F1, die weniger wegen formaler Radikalität, sondern als populäre, technisch ambitionierte Schwergewichte mit ins Feld rücken.
Beste Regie
In der Regiekategorie zeichnet sich eine starke Auteur-Achse ab. Paul Thomas Anderson bleibt mit One Battle After Another der naheliegende Favorit, nicht zuletzt, weil die Academy ihm nach Jahrzehnten markanter Arbeiten und elf Nominierungen gewissermaßen eine überfällige Krönung schuldet. Ryan Coogler positioniert sich mit Sinners als Gegenpol: Ein formal verspielter, politisch aufgeladener Genre-Mix, der zeigt, wie weit Studiofilme gehen können. Chloé Zhao knüpft, so die vielfache Einschätzung, mit Hamnet an Nomadland an und verbindet intime Figurenführung mit präziser, historischer Bildgestaltung.
Joachim Trier ist mit Sentimental Value wiederum der internationale Autorenname, der seit Jahren auf eine große Hollywood-Anerkennung zusteuert. Sein Film ist wie schon andere Werke des Norwegers ein Musterbeispiel dafür, wie persönliches Erzählen und gesellschaftliche Themen durch strukturelle Raffinesse zusammengehen können. In einem Jahr, das von Rückkehr-Erzählungen geprägt ist, sticht jedoch auch eine andere Handschrift hervor: Jafar Panahis Ein einfacher Unfall – ein filmisches Statement mit politischer Sprengkraft, das formal entschlackt, aber inhaltlich umso explosiver auftritt. Panahi führt das Kino an jenen Punkt zurück, an dem es zur reinen Beobachtung wird – und zur moralischen Frage.
Dass sich mit Josh Safdies wahnwitzigem Marty Supreme zudem ein radikaler Regie-Akt aufdrängt, der das klassische Preisvokabular eher sprengt, denn bestätigt, macht die Gemengelage nur noch spannender. In der Summe wirkt die Kategorie 2026 wie ein Panorama möglicher Zukunftsrichtungen: von der operettenhaften Größe eines Oscar-Gewinners bis hin zur konzentrierten, widerständigen Miniatur.
Beste Hauptdarstellerin
Das Schauspielerinnenfeld wirkt außerordentlich weit – und auffallend Indie-geprägt. Jessie Buckley in Hamnet wird vielerorts bereits als sichere Größe gehandelt. Renate Reinsve wiederum führt mit Sentimental Value eine Linie fort, die mit Der schlimmste Mensch der Welt begonnen hat, diesmal jedoch ernster, schattierter und weniger verspielt vorbringt. In diese Richtung weist auch Rose Byrnes wagemutige Darstellung in If I Had Legs I’d Kick You, die ästhetisch wie emotional weit aus dem sicheren Terrain herausragt und bereits bei der Berlinale mit einem silbernen Bären gewürdigt wurde. Emma Stone wiederum setzt in Bugonia ihre überaus beeindruckende Zusammenarbeit mit Yorgos Lanthimos fort und spielt eine Figur, die zwischen Farce, Körperhorror und Begehren oszilliert. Ein bewusst überzeichnetes, aber enorm beeindruckendes Spiel. Und Amanda Seyfried liefert – so heißt es – in dem ebenfalls noch nicht in Deutschland gestarteten The Testament of Ann Lee eine spirituell aufgeladene, körperlich hochriskante Performance, in der religiöse Ekstase, Wahn und Sehnsucht eng ineinandergreifen – und die das Potenzial besitzt, als späte Außenseiterin zum ernsthaften Faktor zu werden.
Dazu kommen Chase Infiniti in One Battle After Another, Tessa Thompson in Hedda, einer modernen Ibsen-Variation, und eine einnehmend ausdrucksstarke Darbietung von Jennifer Lawrence in der radikal subjektiven Depressionserzählung Die, My Love, die eine Würdigung mehr als verdient hätte – aber wohl deutlich geringere Chancen hat als etwa Cynthia Erivo, die als Elphaba in Wicked 2 das einbringt, was die Academy immer wieder würdigt: große Stimme, ikonische Rolle, emotionaler Overkill. Dennoch ist es in diesem Jahrgang eine Favoritenkonstellation, in der auffällig wenig Platz für reine „Oscarbait“-Performances bleibt – und wie stark psychologische Extremzustände die Saison prägen.
Bester Hauptdarsteller
Die männliche Hauptkategorie ähnelt einem Schachbrett mit kaum schwachen Figuren. Leonardo DiCaprio in One Battle After Another steht naturgemäß im Zentrum vieler Prognosen: als gealterter Ex-Aktivist, der an seinen eigenen Idealen scheitert, verbindet er Starpower und charakterorientiertes Spiel in einer Weise, die Oscar-Gremien erfahrungsgemäß honorieren. Timothée Chalamet steht mit Marty Supreme ein zweites Mal in Folge in der Favoritenzone: Nach dem knapp verpassten Sieg für A Complete Unknown verkörpert er nun einen typischen Safdie-Protagonisten, der zwischen Hybris und Zusammenbruch taumelt.
Während Michael B. Jordan mit Sinners überzeugend den Weg vom Franchise-Star zum formal interessanten Charakterkino weitergeht, bringt Wagner Moura in The Secret Agent die Sichtbarkeit einer internationalen Produktion in die Kategorie und könnte – sollte der Film im übrigen Feld gut laufen – zum Symbol einer stärker global aufgestellten Academy werden. Daneben gelten George Clooney (Jay Kelly), Ethan Hawke (Blue Moon) und Jeremy Allen White als Bruce Springsteen in Deliver Me From Nowhere als (einigermaßen) aussichtsreiche Kandidaten, die zeigen, wie unterschiedlich die Wege zur gleichen Statue sein können.
Beste Nebendarstellerin
In der Nebendarstellerinnen-Kategorie prallen Musical-Glanz, Arthouse-Feinarbeit und Genre-Aufbrüche aufeinander. Ariana Grande könnte mit ihrer Glinda in Wicked 2 einen klassischsten Oscar-Slot ergattern: eine prominente Popfigur, die sich als durchaus ernstzunehmende Schauspielerin in einer ikonischen Rolle behauptet. Allerdings sorgte Teyana Taylor in One Battle After Another trotz begrenzter Screentime für eine der meistbesprochenen Leistungen – und damit genau jene „Scene Stealer“-Darstellung, die in dieser Kategorie besonders weit kommen kann.
Elle Fanning und Inga Ibsdotter Lilleaas teilen sich in Sentimental Value eine Art Doppelspitze: zwei Performances, die überaus unterschiedlich sind und doch beide das Interesse der Academy wecken könnten. Auch Regina Hall wird regelmäßig als eine der Favoritinnen genannt, mischt im selben Film wie Teyana Taylor mit und könnte von der Gesamtwucht des PTA-Projekts profitieren. Schließlich drängen Amy Madigan (Weapons) mit einer erinnerungswürdigen Horrorperformance und Nina Hoss (Hedda) als deutsche Schauspielerin ins Favoritenfeld.
Bester Nebendarsteller
Im Nebendarsteller-Rennen überschneiden sich ausstehende Karriere-Würdigungen, Comebacks und Aufstiege. Stellan Skarsgård Rolle in Sentimental Value könnte die ideale Gelegenheit sein, eine jahrzehntelange Karriere auszuzeichnen. Sean Penn und Benicio del Toro sind als Teil eines großen Oscar-Favoriten, One Battle After Another, ebenfalls wahrscheinliche Kandidaten. Paul Mescal werden als William Shakespeare in Hamnet ebenfalls große Chancen zugesprochen. Aber auch für Adam Sandler könnte sich mit Jay Kelly endlich der Wunsch nach Anerkennung abseits seiner Komödiantenkarriere erfüllen.
Jacob Elordi wiederum konnte in Frankenstein einen Schritt weiter weg vom Teenie-Seriengesicht hin zum ernsthaften Charakterdarsteller machen. Ergänzt wird das Favoritenfeld durch Namen wie Miles Caton (Sinners), William H. Macy (Train Dreams) oder Jeremy Strong (Springsteen: Deliver Me From Nowhere), die jeweils unterschiedliche Traditionslinien der Kategorie fortführen, vom Ensemble-Arbeiter bis zum „Method“-besessenen Charakterdarsteller.
Bestes Originaldrehbuch
Die Kategorie „Originaldrehbuch“ dient voraussichtlich auch dieses Jahr als Ventil für Filme, die in der Königskategorie womöglich knapp scheitern. Sinners ist hier einer der spannendsten Kandidaten: Ryan Coogler verknüpft Blues-Geschichte, Vampir-Mythologie und amerikanische Gegenwart zu einem Plot, der riskant, überbordend und in besten Momenten erstaunlich präzise ist. Sentimental Value von Joachim Trier und Eskil Vogt repräsentiert das Gegenteil: ein fein ausbalanciertes, aber strukturell komplexes Familiendrama, das sich nie in Konstruktion verliert.
Marty Supreme bringt mit der Safdie-Signatur ein Drehbuch ins Rennen, das bewusst zu viel von allem ist – überfrachtet, dialoglastig, aber in seiner Überdosis konsequent, wie es heißt. Noah Baumbach (mit Emily Mortimer) liefert in Jay Kelly ebenfalls das, was die Academy von ihm kennt, bislang aber nur mit Oscar-Nominierungen bedacht wurde: scharfe Beobachtung von Paar- und Familienkonflikten. Ein einfacher Unfall von Jafar Panahi schließlich bietet ein politisch aufgeladenes, formal strenges Buch, das Macht, Schuld und Zufall verschränkt. Ergänzt durch Außenseiter wie The Testament of Ann Lee, The Secret Agent oder If I Had Legs I’d Kick You entsteht ein Feld, in dem Sprache, Struktur und Tonfall oft mehr wiegen als Publikumszahlen.
Bestes adaptiertes Drehbuch
Bei den Adaptionen konzentriert sich viel auf zwei offensichtliche Schwergewichte: Hamnet und One Battle After Another. Aber auch Guillermo del Toro werden Chancen eingeräumt – der transformiert mit Frankenstein einen Kanonstoff in eine persönliche Reflexion über Monstrosität, Kreatur und Schöpfer, was die Drehbuchleistung zwar nicht weit über eine bloße Aktualisierung hinaushebt, aber dennoch gewürdigt werden könnte. Deutlich interessanter ist da Bugonia (Will Tracy) als schneidige Satire, die auf dem südkoreanischen Film Save the Green Planet! basiert, und eine herausragende Gegenwartsdiagnose liefert.
Train Dreams wiederum macht aus einem vergleichsweise kurzen Prosatext ein vollwertiges Drama, dessen Konzentration eher als Stärke denn als Limit gelesen wird. Wicked 2, The Smashing Machine und Springsteen: Deliver Me From Nowhere ergänzen das Feld um sehr unterschiedliche Formen von Vorlage – Musical, Dokumentarstoff, Biografie –, bei denen die Academy erfahrungsgemäß gern jene versieht, die mehr tun, als bekannten Stoff „cinematisch“ aufzubereiten.
Bester internationaler Film
Das internationale Rennen sieht aus wie eine Fortsetzung der vergangenen Jahre: stark, breit, deutlich weniger eurozentrisch als früher. Norwegen schickt Sentimental Value ins Rennen und platziert damit einen Film, der ohnehin bereits in den Hauptkategorien als Favorit kursiert. Frankreich setzt mit Panahis Ein einfacher Unfall ein politisches Signal und Südkorea schickt mit Park Chan-wooks No Other Choice einen Thriller zu den Oscars, der die Tradition von Parasite fortführen könnte. Brasilien tritt mit The Secret Agent an – einer Mischung aus Spionage, Sozialanalyse und Melodram –, während die Ukraine mit 2000 Meters to Andriivka eine Kriegsreflexion anbietet, deren Relevanz kaum zu übersehen ist. Dazu kommen etwa Spanien mit dem Raver-Film Sirât und Deutschland mit In die Sonne schauen, die beide in Cannes mit dem Jury-Preis ausgezeichnet wurden.































































































































































































































